Fünfter Wochenbericht

Unser Wochenstart verzögert sich um einige Stunden. Am Wochenende sind wir der chaotischen Hauptstadt in den Süden entflohen. Bei unserer Rückkehr gerät unser Reisebus jedoch in einen original bengalischen Monsterstau, der uns erst müde mit stundenlanger Verspätung wieder ausspuckt.

In der fünften Woche klappen jetzt zu Beginn des Patientengesprächs einige kleine Floskeln und auch die wichtigsten Vokabeln kann man inzwischen verstehen. Schmerzen (betha), Husten (khashi ) und Juckreiz (cholkani) gehören in jede Anamnese. Manche Patienten sind in der Folge einer standesgemäßen Begrüßung und Vorstellung ein wenig sprachlos. Mittlerweile hat man auch einen klinischen Blick für die lokalen Krankheitsbilder entwickelt. Mein erster Patient ist mit seinen 31 Jahren stark unterernährt. Bei der Untersuchung zeigen sich eindrückliche Trommelschlägelfinger. Diese sind ein Zeichen für eine chronische (lang andauernde) Erkrankung. Der häufigste Grund in Bangladesch ist eine Tuberkulose-Erkrankung. Auch diesen jungen Mann werde ich ins Krankenhaus zur weiteren Diagnostik einweisen. Heutzutage ist die Chance einer Genesung bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme recht gut. Ein 13-jähriges Mädchen klagt über anhaltende Bauch- und Kopfschmerzen seit einem Jahr. Ein Problem, welches man auch bei dieser Altersgruppe oft in Deutschland zu hören bekommt. Oftmals liegen diesen unspezifischen Symptomen aber ganz andere Ursachen zu Grunde. Und auch hier werde ich nach ein paar Nachfragen fündig. Die Mutter der Patientin ist vor ca. einem Jahr nach Dubai gegangen. Was sie dort macht, erfahre ich leider nicht. Mein Übersetzer erklärt mir, dass dies nicht ungewöhnlich für Bangladeschis ist. Sie sind dort als Putzfrau oder im Baugewerbe als günstige Arbeitskräfte beschäftigt. Ein wenig später stellt sich ein verzweifelter junger Mann bei uns vor. Aus einem alten Arztbrief lese ich, dass er vor zwei Jahren in einem Krankenhaus wegen einem Suizidversuch aufgenommen wurde. Dabei hat er große Mengen einer Säure geschluckt, die in der Folge seine Speiseröhre verätzt hat. Er hat dieses schreckliche Ereignis damals überlebt. Jedoch blieb die Tat nicht ohne Folgen. Seine Speiseröhre wurde so stark gereizt, dass sie jetzt verengt ist (Ösophagusstriktur). Der Patient kann keine feste Nahrung zu sich nehmen. Ich kenne den genauen Befund nicht, aber mit Sicherheit könnte man hier mit einem endoskopischen Verfahren die Striktur genau darstellen und mit einem Ballon versuchen, diese zu erweitern. Da es sich hierbei um eine spezialisierte Untersuchung handelt, müssen die Experten ran. Wir notieren uns Namen und Telefonnummer des Patienten. Unser Projektmanager ist aktuell dabei einen Termin beim hiesigen Professor für Magen-Darm-Erkrankungen zu organisieren.

Am Dienstag regnet es von morgens bis abends durchgängig in Dhaka. Trotzdem finden viele Patienten den Weg in unsere Ambulanz. Es gibt eine Sache, die uns bei der Arbeit häufig zum Schmunzeln bringt und bei der abendlichen Auswertung in schallendem Gelächter endet. Es geht um die richtige Inhalationstechnik. Einige Patienten leiden an einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Diese wird besonders durch eine lange Rauchexposition verursacht. Neben dem Zigarettenrauch spielt in Bangladesch besonders der Kontakt zu Rauch in der Wohnung (durch offene Feuerstellen) eine große Rolle. Zur adäquaten Behandlung der Erkrankung ist es wichtig, mit einem Inhalator präzise umzugehen. Der Wirkstoff muss im richtigen Augenblick abgegeben und im Anschluss auch wirklich eingeatmet werden. Diese Technik üben wir dann so oft es geht mit dem Patienten. Bei den täglichen Trainings gibt es allerhand interessante Techniken zu bestaunen. Die Varianten reichen vom „Schlucken“ und „Gegenpusten“ über „Sprühen mit offenem Mund“ bis zum „Luftanhalten-Rekord“. Auch unsere Mitarbeiter sind jedes Mal mit vollem Elan dabei (siehe Bild).

In der vergangenen Woche habe ich über ein Kind mit einer durch Vitamin D-Mangel verursachten Erkrankung berichtet. Gelegentlich sehen wir auch Frauen in unserer Sprechstunde, die unter Rückenschmerzen, Muskelkrämpfen und Knochenbrüche leiden. Interessanterweise kommt es bei Ihnen in einem sehr sonnigen Land ebenfalls zu dieser Mangelerkrankung. Grund dafür ist das Tragen einer in muslimischen Ländern üblichen Burka. Freizügig zeigt sich niemand in Bangladesch. Auch am Strand wird stets auf lange Kleidung geachtet. 

Der Mittwoch ist ein großer Freudentag für unsere Mitarbeiter. Mit 115 Patienten stellen wir einen kleinen Tagesrekord in diesem Jahr auf. Zudem wird in großer Runde bei einem gemeinsamen Mittagessen der erste Geburtstag des Kindes unseres Fahrers gefeiert.

Am Nachmittag notiere ich einen neuen persönlichen Rekordwert für einen von mir gemessenen Blutzuckerwert. Es handelt sich dabei um den Assistenten unseres Projektleiters in Dhaka. Er stellt sich eigentlich wegen Rippenschmerzen vor. Die Konsultation ist nach der folgenden Untersuchung schon fast beendet, als mein Übersetzer noch einen Hinweis gibt. Es handelt sich um einen Diabetes-Patienten. Medikamente würde er aber nie nehmen. Der Wert ist mit 32,3 mmol/l nochmal um ein Vielfaches höher, als mein vorheriger Rekordwert. Ich bin gespannt, ob der Wert nochmal getoppt werden kann. Wir verteilen gern Luftballons an die Kinder in unserer Sprechstunde. Ein kleines Mädchen ist verrückt nach dem roten Ballon. Da ich nebenbei noch die beiden älteren Schwestern und die Mutter behandle erheitert uns die Kleine für eine ganze Weile. Dabei fällt auf, dass sie auf der Jagd nach dem Ballon merkwürdige robbende Bewegungen macht. Die Mutter zeigt mir ein Röntgenbild, das einen Bruch des Oberschenkelknochens (Femurfraktur) zu erkennen gibt. Das Bild ist auf den Tag nach der Geburt datiert. Ich tippe hier auf eine traumatische Geburtsverletzung, wahrscheinlich nach Geburt aus Beckenendlage. Dies ist eine Kindslage, wobei nicht der Kopf, sondern das Becken zuerst geboren wird. Dies stellt eine Gefahr für das Wohl des Kindes und der Mutter da, weshalb in Deutschland sehr häufig Kaiserschnitte bei dieser Einstellungsanomalie durchgeführt werden. Der Bruch ist jetzt gut verheilt. Laufen kann das 14 Monate alte Kind noch nicht. Wir werden es engmaschig zur Kontrolle einbestellen und beobachten.

Am folgenden Tag weckt mich die Sonne sanft am Morgen. Dass dies nur ein kleiner Vorgeschmack auf den kommenden Tag sein wird, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Unermüdlich wird sie heute auf uns herabschauen. Das Thermometer zeigt am Mittag bereits 37°C. Wir sitzen in unserer kleinen Hütte zwischen Eisenbahnlärm und LKW-Smog. Der Ventilator ist ausgefallen. Was vorher mal unsere Ambulanz war, ist jetzt zu einer Sauna mutiert. Wir sehnen einen rettenden Regenschauer herbei, doch der kommt nicht. Dafür aber reichlich Patienten. Zum Glück besucht uns die Großmutter des Kindes, das wir vergangene Woche in unserer Ambulanz behandelt haben. Sie hat erbarmen mit den schwitzenden Helfern und sie hilft uns kurzzeitig, indem sie mit ihrem Fächer einen kleinen Luftstrom erzeugt. Wir freuen uns auch, dass es der Patientin jetzt wieder besser geht. Am meisten hat mich an diesem Tag ein kleines Mädchen berührt, das mir schon oft als Fotomotiv gedient hat. Vor drei Tagen ist ein Auto über ihren Fuß gefahren. Bei einer Krankenhausvorstellung wurde ein Bruch ausgeschlossen. Trotzdem klafft auf dem Fuß eine große Wunde. Wir wollen die Wunde reinigen und verbinden, jedoch ist die Patientin nach einer Schmerzmitteleinnahme nicht mehr im Wartebereich zu finden. Mein Übersetzer macht sich auf den Weg zur Familie. Der Vater erklärt, dass er einen Verband für unnötig hält. Nach mehrmaligen Versuchen gelingt es uns zumindest die Patientin in Begleitung der Mutter wiederzusehen. Ich verzichte auf einen Verband und befestige den Tupfer mit zwei großen Pflastern. Nicht schön aber vielleicht wird es den Vater davon abhalten, die Arbeit gleich wieder zunichte zu machen. In der nächsten Woche wird sich zeigen, ob die Maßnahme erfolgt hatte.

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