Fazit des Einsatzes mit den German Doctors

Dhaka – Eine Stadt im Wandel

Viel gibt es über diese Stadt im Herzen Bangladeschs zu berichten. Die Unterschiede zu einem Leben in Deutschland sind unvorstellbar. Da ist zum einen das riesige Müllproblem. Der Gestank ist omnipräsent und mit jedem Atemzug bahnen sich der Gestank von vergorenen Lebensmitteln, toten Tieren und Exkrementen den Weg in unsere Lungen. Der Verkehr verschmilzt zu einem ungeordneten riesigen Stau-Ungeheuer. Es gibt keine klaren Verkehrsregeln, die das Vorankommen bei uns so effektiv und sicher gestaltet. Überholen ist unter dauerhafter hupender Ankündigung jederzeit und von jeder Richtung möglich. Man wird an das einfache Gesetz des Stärkeren erinnert, wenn man mit seinem Minivan den großen LKWs und Bussen ausweichen muss, Rikschas und CNGs (größere motorisierte dreirädrige Fahrzeuge) aber gleichzeitig gegen uns zurückziehen müssen. Der Verkehr führt zu einem hohen Schadstoff- und Lärmlevel. Er fordert jährlich unzählige unnötige Unfall-  und Todesopfer. Die Fehlende Kanalisation verwandelt in der Regenzeit viele Straßen zu Flüssen. Das Wasser nimmt den Müll auf und trägt ihn in die Häuser der armen Bevölkerung.

Die Religion hat einen sehr hohen Stellenwert im täglichen Leben. Mit dem Sonnenaufgang (ca. vier Uhr) ruft der Muezzin zum ersten Gebet des Tages. Insgesamt beten Muslime fünf mal täglich. Die Familie ist das wichtigste Element der Gemeinschaft. Im täglichen Leben haben Freizeitgestaltung, Kultur und Sport eine untergeordnete Rolle. Es wird sehr oft den ganzen Tag über (teilweise in mehreren Jobs) gearbeitet. Dabei sind die Arbeitsherausforderungen nicht mit unserer komplexen Arbeitswelt vergleichbar. Das Frauenbild ist um ganze Entwicklungsepochen hinter dem in Europa zurück. Nur wenige Frauen gehen arbeiten. Zum großen Teil obliegt ihnen die Versorgung der Kinder und der Haushalt.

Und doch sieht man an jeder Ecke die tägliche Entwicklung dieser riesigen Metropole aufblitzen. Gigantische Müllberge verschwinden innerhalb von Wochen, Flüsse werden ausgebaggert, Abflussrinnen werden neben den Straßen ausgehoben und überall entstehen neue Häuser. Regiert wird das Land aktuell von einer Frau. Scheich Hasina Wajed ist die Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman. Mit stetigem hohem Wirtschaftswachstum kommt gleichzeitig die Chance auf eine konstante Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Etablierung einer Grundbildung, die Bekämpfung von Korruption, Vetternwirtschaft und Veruntreuung sowie die Stabilisierung der Wahl- und Pressefreiheit sind die Herausforderungen der Zukunft. So wird jede Generation in einem neuen Bangladesch leben.

Die medizinische Arbeit als German Doctor

Die German Doctors haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Ärmsten der Armen zu helfen. Dabei ist die Arbeit basismedizinisch und damit ähnlich zu den Arbeiten eines Hausarztes zu verstehen. Dementsprechend sah ich in meinem Einsatz viele Patienten mit Schmerzen jeglicher Art sowie Atemwegs- und Durchfallerkrankungen. Auch chronische Erkrankungen wie Diabetes, COPD und Bluthochdruck werden von uns regelmäßig behandelt. Die Schulung der Patienten zur regelmäßigen Medikamenteneinnahme stellt sich nicht nur in Bangladesch als Herausforderung dar. Hinzu kamen einige Besonderheiten, die durch die Armut und die Lebensbedingungen unserer Patienten zu erklären sind. Hier sind besonders unzählige Hauterkrankungen, wie Krätzmilben, Pilze und Wundentzündungen zu nennen. Darüber hinaus ist die Tuberkulose (siehe Woche eins, drei, vier, fünf) eine wichtige Differenzialdiagnose, die bei jedem Husten und Patient mit unerklärlichem Gewichtsverlust beachtet werden muss. Durch das scharfe Essen und eine häufige Besiedlung mit einem Magenkeim, der nur schwer zu behandeln ist, gibt es hier auch viele Menschen, die an häufigen Magenschmerzen leiden.

Ein wichtiger Unterschied in der Behandlung der Patienten spielt das hiesige Gesundheitssystem. Es gibt für viele Erkrankungen schlichtweg nur inadäquate Therapieoptionen (z.B. Rheumatisches Fieber, Morbus Parkinson, Tumorleiden). Hinzu kommt das Problem, dass es keine Krankenversicherung gibt. Dies schließt von Vornherein eine gezielte Diagnostik und Behandlung aus. Oft haben wir uns auch über eine unnötige Diagnostik und das Verschreiben von Medikamenten gewundert. Viele Patienten gehen vor dem Arztbesuch auch zuerst in eine Apotheke, wo sie ohne Rezept frei verkäuflich Antibiotika, Antidepressiva, Schmerzmittel und sogar Insulin beziehen können.

Persönliche Grenzen

Neben den medizinischen Grenzen werden einem im Einsatz auch gelegentlich die eigenen körperliche Grenzen aufgezeigt. Zur Regenzeit ist es drückend heiß mit täglichen Temperaturen von 30-40°C. Hinzu kommt der andauernde Regen, der für eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit verantwortlich ist. Schlafen ist nur mit einem laut summenden Ventilator erträglich, der gleichzeitig versucht, den andauernden Straßenlärm zu übertrumpfen. Bei häufigen Stromausfällen fällt der Ventilator jedoch ständig aus. Zu Allem, wozu man dann in der Lage ist, ist nur noch schwitzen. Schwitzen am Tag, schwitzen in der Nacht.

Für die Nahrungsaufnahme gibt es vor Ort eine einfache Regel: „cook it, boil it, peal it, or leave it“ – „koch es, siede es, pell es oder lass es sein. Und auch wenn ich während meiner vorherigen Reisen in ähnliche Regionen bereits gut mit dieser Regel zurecht kam, ereilte mich in Bangladesch doch zweimalig eine Reisedurchfallerkrankung. Das Problem, das sich mir in dieser Situation stellte, war nicht primär die Erkrankung, sondern eine anschließende adäquate Ernährung zur Genesung. Reis und Gemüse sind als Schonkost geeignet. Große Energielieferanten sind sie nicht.

Die tägliche Arbeit mit den Patienten macht sehr viel Spaß und ohne lästige Überdokumentation kann man in unserem Projekt gut klinisch arbeiten. Ernüchternd ist die Behandlung von komplexen Krankheitsbildern. Man trifft immer wieder auf Patienten, die auch hier einer guten Behandlung zugeführt werden könnten und bei denen es die Chance zur echten Lebensverbesserung geben könnte. Dann füllt man häufig eine Krankenhauseinweisung aus. Unserem Rat folgen die Patienten dann nur selten. Selbst bei kostenloser Behandlung (z.B. Einweisung bei Unterernährung) wird diese oft abgebrochen. Dabei sind eine fehlende Gesundheitsbildung sowie ein Mangel an Geld und Begleitpersonen (die Patienten werden teilweise von Angehörigen im Krankenhaus versorgt) zwar nachvollziehbare Gründe, wenn eine Familie eine lebenswichtige Behandlung für ihr Kind abbricht, dann empfindet man trotz alledem ein Frustgefühl.

Mein Dank für eine lehrreiche, glückliche, traurige, spannende, lustige, frustrierende, intensive, anstrengende, hoffnungsvolle und spannende Zeit in Bangladesch gilt unserem Medical Team vor Ort sowie allen Menschen, die dieses Projekt mit Ihrer Arbeit und Ihren Spenden nachhaltig unterstützen.

Vielen Dank !!!

Fünfter Wochenbericht

Unser Wochenstart verzögert sich um einige Stunden. Am Wochenende sind wir der chaotischen Hauptstadt in den Süden entflohen. Bei unserer Rückkehr gerät unser Reisebus jedoch in einen original bengalischen Monsterstau, der uns erst müde mit stundenlanger Verspätung wieder ausspuckt.

In der fünften Woche klappen jetzt zu Beginn des Patientengesprächs einige kleine Floskeln und auch die wichtigsten Vokabeln kann man inzwischen verstehen. Schmerzen (betha), Husten (khashi ) und Juckreiz (cholkani) gehören in jede Anamnese. Manche Patienten sind in der Folge einer standesgemäßen Begrüßung und Vorstellung ein wenig sprachlos. Mittlerweile hat man auch einen klinischen Blick für die lokalen Krankheitsbilder entwickelt. Mein erster Patient ist mit seinen 31 Jahren stark unterernährt. Bei der Untersuchung zeigen sich eindrückliche Trommelschlägelfinger. Diese sind ein Zeichen für eine chronische (lang andauernde) Erkrankung. Der häufigste Grund in Bangladesch ist eine Tuberkulose-Erkrankung. Auch diesen jungen Mann werde ich ins Krankenhaus zur weiteren Diagnostik einweisen. Heutzutage ist die Chance einer Genesung bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme recht gut. Ein 13-jähriges Mädchen klagt über anhaltende Bauch- und Kopfschmerzen seit einem Jahr. Ein Problem, welches man auch bei dieser Altersgruppe oft in Deutschland zu hören bekommt. Oftmals liegen diesen unspezifischen Symptomen aber ganz andere Ursachen zu Grunde. Und auch hier werde ich nach ein paar Nachfragen fündig. Die Mutter der Patientin ist vor ca. einem Jahr nach Dubai gegangen. Was sie dort macht, erfahre ich leider nicht. Mein Übersetzer erklärt mir, dass dies nicht ungewöhnlich für Bangladeschis ist. Sie sind dort als Putzfrau oder im Baugewerbe als günstige Arbeitskräfte beschäftigt. Ein wenig später stellt sich ein verzweifelter junger Mann bei uns vor. Aus einem alten Arztbrief lese ich, dass er vor zwei Jahren in einem Krankenhaus wegen einem Suizidversuch aufgenommen wurde. Dabei hat er große Mengen einer Säure geschluckt, die in der Folge seine Speiseröhre verätzt hat. Er hat dieses schreckliche Ereignis damals überlebt. Jedoch blieb die Tat nicht ohne Folgen. Seine Speiseröhre wurde so stark gereizt, dass sie jetzt verengt ist (Ösophagusstriktur). Der Patient kann keine feste Nahrung zu sich nehmen. Ich kenne den genauen Befund nicht, aber mit Sicherheit könnte man hier mit einem endoskopischen Verfahren die Striktur genau darstellen und mit einem Ballon versuchen, diese zu erweitern. Da es sich hierbei um eine spezialisierte Untersuchung handelt, müssen die Experten ran. Wir notieren uns Namen und Telefonnummer des Patienten. Unser Projektmanager ist aktuell dabei einen Termin beim hiesigen Professor für Magen-Darm-Erkrankungen zu organisieren.

Am Dienstag regnet es von morgens bis abends durchgängig in Dhaka. Trotzdem finden viele Patienten den Weg in unsere Ambulanz. Es gibt eine Sache, die uns bei der Arbeit häufig zum Schmunzeln bringt und bei der abendlichen Auswertung in schallendem Gelächter endet. Es geht um die richtige Inhalationstechnik. Einige Patienten leiden an einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Diese wird besonders durch eine lange Rauchexposition verursacht. Neben dem Zigarettenrauch spielt in Bangladesch besonders der Kontakt zu Rauch in der Wohnung (durch offene Feuerstellen) eine große Rolle. Zur adäquaten Behandlung der Erkrankung ist es wichtig, mit einem Inhalator präzise umzugehen. Der Wirkstoff muss im richtigen Augenblick abgegeben und im Anschluss auch wirklich eingeatmet werden. Diese Technik üben wir dann so oft es geht mit dem Patienten. Bei den täglichen Trainings gibt es allerhand interessante Techniken zu bestaunen. Die Varianten reichen vom „Schlucken“ und „Gegenpusten“ über „Sprühen mit offenem Mund“ bis zum „Luftanhalten-Rekord“. Auch unsere Mitarbeiter sind jedes Mal mit vollem Elan dabei (siehe Bild).

In der vergangenen Woche habe ich über ein Kind mit einer durch Vitamin D-Mangel verursachten Erkrankung berichtet. Gelegentlich sehen wir auch Frauen in unserer Sprechstunde, die unter Rückenschmerzen, Muskelkrämpfen und Knochenbrüche leiden. Interessanterweise kommt es bei Ihnen in einem sehr sonnigen Land ebenfalls zu dieser Mangelerkrankung. Grund dafür ist das Tragen einer in muslimischen Ländern üblichen Burka. Freizügig zeigt sich niemand in Bangladesch. Auch am Strand wird stets auf lange Kleidung geachtet. 

Der Mittwoch ist ein großer Freudentag für unsere Mitarbeiter. Mit 115 Patienten stellen wir einen kleinen Tagesrekord in diesem Jahr auf. Zudem wird in großer Runde bei einem gemeinsamen Mittagessen der erste Geburtstag des Kindes unseres Fahrers gefeiert.

Am Nachmittag notiere ich einen neuen persönlichen Rekordwert für einen von mir gemessenen Blutzuckerwert. Es handelt sich dabei um den Assistenten unseres Projektleiters in Dhaka. Er stellt sich eigentlich wegen Rippenschmerzen vor. Die Konsultation ist nach der folgenden Untersuchung schon fast beendet, als mein Übersetzer noch einen Hinweis gibt. Es handelt sich um einen Diabetes-Patienten. Medikamente würde er aber nie nehmen. Der Wert ist mit 32,3 mmol/l nochmal um ein Vielfaches höher, als mein vorheriger Rekordwert. Ich bin gespannt, ob der Wert nochmal getoppt werden kann. Wir verteilen gern Luftballons an die Kinder in unserer Sprechstunde. Ein kleines Mädchen ist verrückt nach dem roten Ballon. Da ich nebenbei noch die beiden älteren Schwestern und die Mutter behandle erheitert uns die Kleine für eine ganze Weile. Dabei fällt auf, dass sie auf der Jagd nach dem Ballon merkwürdige robbende Bewegungen macht. Die Mutter zeigt mir ein Röntgenbild, das einen Bruch des Oberschenkelknochens (Femurfraktur) zu erkennen gibt. Das Bild ist auf den Tag nach der Geburt datiert. Ich tippe hier auf eine traumatische Geburtsverletzung, wahrscheinlich nach Geburt aus Beckenendlage. Dies ist eine Kindslage, wobei nicht der Kopf, sondern das Becken zuerst geboren wird. Dies stellt eine Gefahr für das Wohl des Kindes und der Mutter da, weshalb in Deutschland sehr häufig Kaiserschnitte bei dieser Einstellungsanomalie durchgeführt werden. Der Bruch ist jetzt gut verheilt. Laufen kann das 14 Monate alte Kind noch nicht. Wir werden es engmaschig zur Kontrolle einbestellen und beobachten.

Am folgenden Tag weckt mich die Sonne sanft am Morgen. Dass dies nur ein kleiner Vorgeschmack auf den kommenden Tag sein wird, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Unermüdlich wird sie heute auf uns herabschauen. Das Thermometer zeigt am Mittag bereits 37°C. Wir sitzen in unserer kleinen Hütte zwischen Eisenbahnlärm und LKW-Smog. Der Ventilator ist ausgefallen. Was vorher mal unsere Ambulanz war, ist jetzt zu einer Sauna mutiert. Wir sehnen einen rettenden Regenschauer herbei, doch der kommt nicht. Dafür aber reichlich Patienten. Zum Glück besucht uns die Großmutter des Kindes, das wir vergangene Woche in unserer Ambulanz behandelt haben. Sie hat erbarmen mit den schwitzenden Helfern und sie hilft uns kurzzeitig, indem sie mit ihrem Fächer einen kleinen Luftstrom erzeugt. Wir freuen uns auch, dass es der Patientin jetzt wieder besser geht. Am meisten hat mich an diesem Tag ein kleines Mädchen berührt, das mir schon oft als Fotomotiv gedient hat. Vor drei Tagen ist ein Auto über ihren Fuß gefahren. Bei einer Krankenhausvorstellung wurde ein Bruch ausgeschlossen. Trotzdem klafft auf dem Fuß eine große Wunde. Wir wollen die Wunde reinigen und verbinden, jedoch ist die Patientin nach einer Schmerzmitteleinnahme nicht mehr im Wartebereich zu finden. Mein Übersetzer macht sich auf den Weg zur Familie. Der Vater erklärt, dass er einen Verband für unnötig hält. Nach mehrmaligen Versuchen gelingt es uns zumindest die Patientin in Begleitung der Mutter wiederzusehen. Ich verzichte auf einen Verband und befestige den Tupfer mit zwei großen Pflastern. Nicht schön aber vielleicht wird es den Vater davon abhalten, die Arbeit gleich wieder zunichte zu machen. In der nächsten Woche wird sich zeigen, ob die Maßnahme erfolgt hatte.

Vierter Wochenbericht

Meinen letzten Wochenbericht habe ich mit den Erfahrungen geschlossen, dass wir auch gelegentlich schwer kranke Patienten mit Krankenhauseinweisungen in der nächsten Woche wiedersehen. Dass dies auch bei unserem stark unterernährten Kind der letzten Woche der Fall sein könnte, habe ich nicht für möglich gehalten. Meine vierte Woche beginnt jedoch leider genau mit diesem Vorfall.

Wir erfahren, dass die stationäre Behandlung bereits nach sechs Tagen abgebrochen wurde. Dabei hat sich die Familie aus privaten Gründen gegen den Rat der Ärzte selbst entlassen. Das Krankenhaus ist weit vom Wohnort der Familie in Dhaka entfernt. Die Familie ist neu in der Hauptstadt und sie haben keine Verwandten hier. Die Mutter ist selbst unterernährt und krank. Ich sehe, wie sie kraftlos versucht das schreiende Kind zu beruhigen. Viel Frustration und Resignation lese ich in ihrem Gesichtsausdruck. Sie möchte nicht allein im Krankenhaus mit ihrem Kind bleiben. Ich bin gelinde gesagt wirklich sprachlos. In Deutschland würde man in diesem Fall sicher eine einstweilige Verfügung wegen Kindeswohlgefährdung und eine Inobhutnahme durch das Jugendamt anstreben. Ich erkläre dem Vater nochmals in aller Deutlichkeit, dass das Risiko, erst sein Kind und anschließend seine Frau zu verlieren, angesichts dieser Befunde Realität werden könnte. Wir wollen eine Vermittlung an ein lokales Krankenhaus organisieren. Ich möchte zusätzlich zumindest versuchen, einen Sozialarbeiter für die Familie zur beschaffen. Kurz darauf verlassen sie rasch unsere Ambulanz. Die Übersetzer versichern mir, dass sie alle Vorbereitungen treffen möchten, um dann in einer Stunde wieder zu kommen und mit uns erneut ins Krankenhaus zu fahren. Es fällt mir schwer euch mitteilen zu müssen, dass wir in der Folge leider vergebens gewartet haben…

Anschließend kommt eine 32-jährige Patientin, die angibt, seit fünf Jahren an einer Diabetes-Erkrankung zu leiden. Laut eigener Aussage nimmt sie regelmäßig ihre Medikamente, die sie sich in einer Apotheke beschaffen kann. Der zunehmende Durst und der häufige Toilettengang stören sie in der letzten Zeit jedoch zunehmend. Wir schreiten zur Tat und zücken das Blutzuckermessgerät. Ich habe zwar noch keine lange Erfahrung in der Behandlung der Diabetespatienten, einen so hohen Wert habe ich jedoch auch noch nicht erlebt. Das Messergebnis ist mit 22,6 mmol/l doppelt so hoch, wie der maximale Grenzwert. Meine internistische Kollegin weist mich darauf hin, dass dieser Wert eine Krankenhausbehandlung mit kontrollierter Insulintherapie bedeutet. Ich folge ihrem Rat und fülle die Einweisung ins örtliche Krankenhaus aus.

Am Montag besichtigen wir zum ersten Mal den angrenzenden Slum unserer Ambulanz. Auch hier wohnen viele Menschen direkt an den Bahnschienen. Es gleicht einem Wunder, dass hier verhältnismäßig wenig Leute mit Verletzungen umherlaufen. Regelmäßig donnern Schnellzüge vorbei, die sich zwar durch lautes Hupen ankündigen aber zum Bremsen wäre es viel zu spät. Bei unserer Besichtigung fällt uns eine Mutter mit einem jungen Baby ins Auge. Sie erzählt uns, dass es zu früh geboren ist. Die Mutter leidet zudem an einer Tuberkulose und sie wiegt gerade einmal 30 kg. Wieder eine sehr ungünstige Kombination, die sich besonders drastisch auf ihr Neugeborenes auswirkt. Es liegt schlapp im Arm der Mutter. Unsere Schwester wiegt es und sie schreibt 2 kg in unser Untersuchungsheft. Ich denke, selbst diese Gewichtsangabe ist noch zu hoch. Die Haut des Babys ist dreckig, es atmet schwer und ich denke ebenfalls an eine zusätzliche Infektion. Wir weisen Mutter und Kind wieder in ein spezielles Krankenhaus für unterernährte Kinder ein. Ich denke wieder an das unterernährte Kind vom Vortag. Wut und Frustration mischen sich zu gleichen Teilen. Die nächsten Patienten warten schon.

Ein älterer Mann kommt in die Ambulanz gehumpelt. Auf seinem rechten Fuß befindet sich eine offene eitrige Wunde. Ein Gerüst ist vor zwei Tagen auf seinen Fuß gefallen. Jetzt ist er zudem noch angeschwollen. Eine Fraktur kann der Mann mit Sicherheit ausschließen. Ansonsten könne er ja nicht mehr laufen, versichert er mir. Neben einem Wundverband werden wir trotzdem ein Röntgenbild aufnehmen lassen, nur zur Sicherheit. Der nächste Patient bietet meinem Übersetzer doch einige Schwierigkeiten. Neben Brennen beim Wasserlassen, Ausfluss, Schmerzen und tröpfchenweisem Urinabgang ist alles dabei. Ich veranlasse eine Urinuntersuchung und wir führen einen Ultraschall durch. Die Harnblase ist auch nach dem Wasserlassen noch gefüllt. Hier stellt sich ebenfalls eine unklare Masse dar. Ich tippe auf einen Prostata- oder Blasentumor. Nachdem ich dem Patienten die Befunde erklärt habe, eröffnet er uns, dass er schon im Krankenhaus war und die Ärzte ihm eine Operation nahegelegt haben. Vielleicht wäre diese Information ca. 20 Minuten vorher auch von Nutzen gewesen!? Teilweise wundert es uns aber schon, dass einige Patienten schon ausführliche Diagnostik genossen haben und dann trotzdem nochmals in unserer Ambulanz vorstellig werden.

Am Dienstag bittet uns mein Übersetzer nach der Arbeit noch auf einen Besuch in das nah gelegene private Krankenhaus zur „Visite“ eines noch sehr jungen Verwandten mitzukommen. Weil es sich dabei um eine Neugeborenenintensivstation handelt, ist der Besuch für mich gleich umso spannender. Das Baby ist gerade einmal sechs Wochen alt. In der vergangenen Woche begann es plötzlich mehrmalig zu krampfen. Die Ärzte vermuten eine Neugeboreneninfektion mit Beteiligung des Gehirns (Meningitis), weshalb sie eine antibiotische Therapie begonnen haben. Es wirkt befremdlich, dass es dann bei einer einfachen Diagnostik geblieben ist und beispielsweise Laborwerte nicht erneut kontrolliert wurden und keine Ultraschalluntersuchung des Gehirns durchgeführt wurde. Die Stationsärztin erklärt uns hierzu, dass man den Erfolg der Therapie am Beenden der Symptome ablesen kann. Ich fühle ein inneres Verlangen diverse weitere Untersuchungen durchzuführen. Sicherlich müssen immer die lokalen Behandlungsrichtlinien beachtet werden. Ich empfinde gerade hier eine Krankenhaus-Kooperation im Bereich der spezialisierten Medizin als sehr sinnvoll und nachhaltig. (siehe Gedanken zur Arbeit in einem medizinischen Entwicklungsprojekt). Dies sind hier jedoch nicht die Aufgaben der German Doctors.

An unserem arbeitsintensiven Mittwoch will die Warteschlange kein Ende nehmen. Von morgens bis abends werden wir in der Ambulanz sitzen. Dabei sehe ich unglaublich viele Hauterkrankungen, darunter allein 16 Mal einen Scabies-Befall, wobei nicht selten die gesamte Familie betroffen ist. Zum Tagesabschluss gibt es noch ein kleines seltenes pädiatrisches Highlight für mich. Ein Kind sitzt fröhlich auf dem Schoß der Mutter. Die starke Unterernährung scheint dem Mädchen nichts von ihrer Lebenslust genommen zu haben. Die kleine Patientin wird von der Mutter regelmäßig zur Gewichtskontrolle in unserer Ambulanz vorgestellt. Stetig aber langsam nimmt sie hier an Gewicht zu. Doch irgendwie wirkt der Schädel sehr quadratisch und an den Handgelenken finden sich merkwürdige Schwellungen. Mein Übersetzer konnte zum Glück diese Zeichen richtig deuten, denn ich habe in meinem Leben noch nie ein Kind mit Rachitis (Vitamin-D-Mangel) gesehen. Zur Vorbeugung verschreiben wir Kinderärzte in Deutschland eine tägliche Vitamin-D-Gabe im ersten Lebensjahr. Besonders durch die Mangelernährung (geringe Aufnahme von Milchprodukten mit hohem Calciumgehalt) und auch die mangelnde Sonneneinstrahlung z.B. bei verhüllten Frauen bekommt man in unseren Projekten gelegentlich auch diese Erkrankung noch zu Gesicht.

An unserem letzten Arbeitstag in dieser Woche beginnen wir, wie gewohnt mit einer kleinen Weiterbildung. Dabei bereiten wir Ärzte für unsere Mitarbeiter immer neue Themen vor. Heute geht es beispielsweise um den Herzinfarkt. Obwohl ich mich in der Lehre recht wohl fühle, stellen mich die Lehrveranstaltungen hier regelmäßig auf die Probe. Selbst bei unserem medizinisch vorgebildeten Personal fehlt es oft an wichtigen Grundlagen.

Kurz darauf wird es wieder ernst für uns. Wir müssen ein stark dehydriertes Kind behandeln. Das kleine Mädchen hat zudem sehr hohes Fieber bis 40°C. Wir möchten es sofort ins Krankenhaus bringen aber die Oma erzählt uns, dass die Mutter arbeiten ist und sie sich noch um die vier weiteren Geschwister kümmern muss. Wir müssen also improvisieren. Ich habe schon die Infusion vorbereitet, als das Kind plötzlich erwacht und einen großen Schluck aus unserem Becher nimmt. Wir funktionieren kurzerhand unser kleines Sprechzimmer in einen Behandlungsraum um. Die kleine Patientin wird unter einem Ventilator auf eine Trage gelegt. Das Fieber senken wir mit Paracetamol und sie erhält ein Antibiotikum. Die Mutter kommt dann anschließend doch noch zu Besuch. Sie wird nun neben uns sitzen bleiben und Schluck für Schluck den Wasserhaushalt ihrer Tochter wieder regenerieren. Am Ende des Arbeitstages sind wir froh, dass unsere Tagespatientin sogar noch ein paar Kekse zu sich genommen hat. Die Temperatur ist deutlich gesunken und auch die Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt. Die Mutter wird zu Hause weiter auf sie achten müssen. Ich hoffe, das Antibiotikum schlägt rasch an, damit sich diese Situation nicht mehr wiederholen kann.

Wir sehen in unseren Ambulanzen täglich viele Patienten, die wir routiniert therapieren können. Bei ein paar Patienten können wir einen Unterschied machen. Jedoch muss unsere Hilfe auch von ihnen angenommen werden. Diese Woche zeigte, wie unterschiedlich unsere Erfahrungen hier sein können.